Es schreibt: Václav Petrbok
(21. 8. 2024)Vor zwei Jahren erschien (in zwei Bänden) der lang erwartete zehnte Teil des seit 1973 im Auftrag des Instituts für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Handbuchs Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Die fast fünfzig Jahre, über die die einzelnen Bände zu verschiedenen Aspekten der Politik- und Sozialgeschichte sowie zu neueren Perspektiven (wie etwa der Geschichte der Medien, insbesondere der Presse) der späten Habsburgermonarchie erschienen waren, haben sich auch im Hinblick auf die vielfältigen methodologischen Ansätze der hier vertretenen Geschichtswissenschaft niedergeschlagen. Erwähnenswert ist auch der sich ständig erneuernde, generationenübergreifende Kreis von AutorInnen, die nicht nur aus dem (ehemaligen) mitteleuropäischen multinationalen Staatsgebilde stammen. Ziel des vorliegenden Berichts ist es jedoch nicht, eine umfassende Bewertung des gesamten beeindruckenden Handbuchs vorzulegen. Es soll hier nur auf den bereits erwähnten letzten Teil eingegangen werden, der Dem kulturellen Leben. Akteuren – Tendenzen – Ausprägungen gewidmet ist, und auf dessen (mögliche) bohemikalische Überschneidungen hinzuweisen.
In der Einleitung zum ersten Band Staat, Konfession und Identität formuliert Andreas Gottsmann das Hauptziel des gesamten Teiles, nämlich den Versuch, das kulturelle Leben der Habsburgermonarchie in einem trans/nationalen Rahmen zu erfassen. Das Thema des ersten Bandes ist die Analyse der kulturpolitischen Unterschiede zwischen und der Gemeinsamkeiten von verschiedenen, unterschiedlich ausgeprägten Gemeinschaften, die sprachlich definiert waren und zunehmend auch nach sozialer und politischer Emanzipation innerhalb des hegemonialen deutschsprachigen Umfelds der Monarchie strebten, in der auch durch das (temporäre) Bündnis zwischen Thron und Altar ein transnationaler, „österreichischer Patriotismus“ gefördert wurde. In den einzelnen Kapiteln werden die Grundzüge der dynastischen Kultur- und der damals als heikel empfundenen Bildungspolitik sowie verschiedene Aspekte des religiösen Lebens in der katholischen Kirche (u. a. die Beziehung zum Apostolischen Stuhl, der Kulturkampf sowie die Säkularisierungstendenzen innerhalb und außerhalb der Kirche), in verschiedenen evangelischen Konfessionen (einschließlich Publizistik und Vereinsleben), in der uniatischen und orthodoxen Kirche sowie im jüdischen Milieu (lokal und ideologisch stark ausdifferenziert) und nicht zuletzt auch im für das annektierte Bosnien typische muslimische Milieu beschrieben. Kultur- und literaturgeschichtlich sind die Kapitel im vierten Abteil Kultur als Instrument der Nationalpolitik wertvoll, in denen nach der instruktiven Einführung von Pieter Judson die einzelnen nationalsprachlichen Gemeinschaften vorgestellt und die spezifischen Ausprägungen deren kulturpolitischen Profile auf unterschiedliche Weise erfasst werden. So wird z. B. im „ungarischen Falle“ das grandiose Projekt der Feier der Ankunft von Ungarn im Karpatenbecken (das sog. Ungarische Millennium 1896) beschrieben, im Falle der österreichischen deutschsprachigen Nationalliberalen der Kult der Revolution 1848/49 analysiert, im Falle der tschechischsprachigen Gemeinschaft das Manifest Die tschechische Moderne (Česká moderna, 1895) und das Manifest der tschechischen Schriftsteller (Manifest českých spisovatelů, 1917) behandelt. Luboš Velek, der als Autor das tschechischsprachige Milieu behandelte, versteht das kulturpolitische Engagement der tschechischsprachigen Eliten als ein Bemühen „um politische Gleichberechtigung und kulturelle Emanzipation“. Zuvor beschreibt er jedoch die „Tschechische Nationalbewegung“ kritisch als einen dynamischen Prozess des sozialen und kulturellen „Anstiegs der tschechischen Ethnie“ mit der Schlüsselrolle der Bildung, der Pflege der historischen und philologischen Wissenschaften und der national-kulturellen Agitation, damit fasste er Hrochs traditionelle Klassifizierung von Nationalbewegungen zusammen. Im Vergleich zu den Abschnitten, die der Kulturgeschichte nach 1848 gewidmet sind, d. h. der Zeit des Bachschen Neoabsolutismus und der Ära der neuentdeckten Rechtsstaatlichkeit (und deren Verkörperung im Projekt des Nationaltheaters) bis zum bereits oben erwähnten Manifest Die tschechische Moderne, die von Velek durch das Prisma der Handschriften-Kämpfe als Überwindung(sprozess) des dominanten historisierenden Narrativs der tschechischsprachigen Gesellschaft interpretiert, befremdet doch das Aussparen des beinahe allgegenwärtigen interkulturellen Aspekts der vorangegangenen Etappe, der böhmischen bzw. mährischen Kulturgeschichte des Vormärz.
Der zweite Band mit dem Titel Materielle und immaterielle Kultur ist in drei große Abteile unterteilt. Im ersten Teil mit dem Titel Ringstraßenkultur und Moderne kann man sich allgemein über die Entwicklung der Rechtskultur, der bildenden Künste, der Bildhauerei und der Architektur (Ákos Moravánszky schrieb ein spezielles Unterkapitel über den Prager Kubismus), der Musik und der Literaturen, namentlich der deutschen, ungarischen und „westslavische[n] und südslavische[n] Literaturen“, informieren. Im österreichischen Kontext darf natürlich auch die Erwähnung vom „Theater als Ort der gesellschaftlichen und kulturellen Begegnung“ nicht fehlen. Wie aus der skizzierten Gliederung der Publikation ersichtlich wird, haben die Autoren der jeweiligen Kapitel (und mehr oder weniger auch die Autorin des Theaterkapitels) – im Unterschied zu den vorausgegangenen historiographisch konzipierten Texten – auf eine synthetisierende, transkulturell geprägte Erzählung über parallele, ähnliche und natürlich auch völlig unterschiedliche stilistische, thematische und andere Praktiken und Tendenzen in den einzelnen ‚nationalen‘ Literaturen verzichtet. Der Eindruck ihrer wechselseitigen Unverbundenheit, ja Isolation, wird bis auf wenige Ausnahmen (S. 1321 „Der Fall interkulturelle Asymmetrie“ zwischen France Prešeren und Edward Samhaber) durch das Fehlen von Verweisen gestützt, die den unterschiedlichen Grad ihrer interkulturellen (Un-)Verbundenheit überzeugend belegen würden (u. a. die Möglichkeiten und Grenzen des Kulturtransfers im Allgemeinen, das Phänomen des Übersetzens und die Rolle der Übersetzung usw.). So konnten Hubert Lengauer als Autor des Kapitels über die deutschsprachige österreichische Literatur, István Fried als Autor des Textes über die ungarische Literatur sowie Xavier Galmiche und Mateusz Chmurski im Falle des Kapitels über die Literaturen der Westslawen zwar die Entwicklung der Literaturen als Streben nach künstlerischer Autonomisierung überzeugend darstellen, gaben auf die in der Einleitung formulierte Schlüsselfrage des gesamten anspruchsvollen Unternehmens – „Kultur trans/national?“ – jedoch nur eine sehr partielle Antwort. Der Abschnitt über die Alltagskultur deckt schließlich ein breites Spektrum an Unterthemen ab, z. B. Kulturanthropologie, Gender, Wohnkultur, Kleidung bis hin zu spezifisch „österreichischen“ Elementen der Alltagskultur (Kaffeehaus, Begräbniskultur, Alpinismus, Parks und „Neurasthenie“). Der letzte Abschnitt fasst die umfangreiche historiographische Produktion zum Thema Wien – eine Zentraleuropäische Kulturmetropole zur Jahrhundertwende zusammen und bespricht sie kritisch.
Zusammengefasst bietet das umfangreiche Handbuch einen soliden enzyklopädischen Überblick über verschiedenste Aspekte des kulturellen Lebens in der späten Habsburgermonarchie, einschließlich der einschlägigen Sekundärliteratur. Trotz mancher Hinweise auf die Arbeiten von Moritz Csáky, die sowohl die Vorteile als auch die Risiken einer umfassenden kulturgeschichtlichen Untersuchung illustrieren, blieb die Chance, zahlreiche Beispiele kultureller Vermittlungs- und Übersetzungstendenzen, insbesondere im Bereich der Literatur, aufzuzeigen, und somit die Grundzüge der Entwicklung der kakanischen Literaturen in einer vergleichenden oder transnationalen Perspektive zu erfassen, mehr oder weniger ungenutzt.
Übersetzung: Lukáš Motyčka
Gottsmann Andreas (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. X/1-2. Das kulturelle Leben. Akteure – Tendenzen – Ausprägungen. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2021, 2074 S.